Möllner Rede im Exil vom 18. April 2021

Wir dokumentieren hier die „Möllner Rede im Exil“, die Newroz Duman und Naomi Henkel-Gümbel am 18. April 2021 in Hamburg in Gedenken an Yeliz Arslan, Bahide Arslan und Ayşe Yılmaz gehalten haben. Da die Rede 2020 pandemiebedingt ausfallen musste, wurde sie ins Frühjahr 2021 verlegt. Organisiert wurde die Veranstaltung von den Familien Arslan und Yılmaz und dem „Freundeskreis im Gedenken an die rassistischen Brandanschläge von Mölln 1992“. Wir danken Kampnagel für die solidarische Unterstützung dieser Veranstaltung. Die Rede wurde auf der Bühne konsekutiv ins Türkische übersetzt und simultan DGS verdolmetscht. Eine englische Simultanübersetzung wurde online angeboten. Wir bedanken uns ganz herzlich bei allen Beteiligten. Der Mitschnitt der Rede kann hier angesehen werden.


Wir sind die Radikale Vielfalt an sich; das Schöne, das Andere, das Sichtbare, das Mögliche. Aber wie sind wir das geworden?

Wir alle tragen die unterschiedlichsten Geschichten mit uns: die eigenen, die geerbten, die erträumten, die verlorenen, die erstrebten, die erkämpften…

Die unterschiedlichsten Geschichten, und doch eint es uns, dass wir heute hier sind.

Was ist dieses etwas aber, das uns eint?

Unser Alltag wurde durch Gewalt und Ausgrenzung gebrochen. So weit, dass wir um unser eigenes Leben und das unserer Liebsten fürchten mussten, vielleicht immer noch fürchten.

Diese Furcht – bei manchen schlug sie in einen Schmerz über den Verlust eines geliebten Menschen um.

 10373 Tage sind vergangen. 10373 Tage.

Das sind 28 Jahre, 4 Monate und 26 Tage, die seit dem 23. November 1992 vergangen sind. Das sind 10373 Tage ohne Bahide, Yeliz und Ayşe.

Das sind 10373 Tage, seitdem die Welt ohne das Lachen und ohne die Wärme der Drei auskommen muss. Es sind 10373 Tage, in denen Geburtstage, Familienfeiern, Hochzeiten, Feiertage gefeiert wurden und ihre Präsenz fehlte. 10373 Tage, die ihnen geraubt wurden. Diese Drei –  Bahide, Yeliz und Ayşe – sie sind vor 28 Jahren, 4 Monaten und 26 Tagen aus dem Leben gerissen worden.

Sie wurden ihres Lebens beraubt; auf einem nicht natürlichen Weg. Auf einem ungerechten Weg. Auf einem hasserfüllten Weg. Jemand hat Dir aus hasserfüllten Motiven Deine Liebsten genommen.

Der Verlust einer geliebten Person: Wie geht man damit um? Wie findet man Kraft für jeden neuen Tag? Was tut man, wenn man an sich zweifelt? Wenn man an der Welt verzweifelt?

Und irgendwann trifft einen diese Erkenntnis: Es gibt kein zurück zur Normalität. Dieser Tag, dieser Moment, er hinterlässt Narben, die bleiben und uns für immer prägen. Es gibt Tage, an denen reißen die Narben auf und man fühlt den starken, stechenden Schmerz. Und dann gibt es Tage, an denen uns diese Narbe unterschwellig beeinträchtigt. Man wünscht sich die Tage vor jenem Tag, vor jenem Moment, zurück.

Was treibt einen an? Was treibt einen dazu, gegen den Widerwillen von Institutionen und der breiten Gesellschaft für Aufklärung zu streiten? Trotz des ganzen, auch danach noch, erfahrenen Unrechts, weiterzukämpfen?

Es gibt viele Beweggründe. Für manche ist es die schiere Wut, die sie antreibt. Wut, dass diese Tat überhaupt passieren konnte. Dass die Angst, der Schmerz, der Verlust nicht anerkannt werden.

Andere sind getrieben von einem Gefühl der Verantwortung oder sogar Schuld ihren Liebsten gegenüber. Verantwortung, für Aufklärung zu sorgen und ihrer zu gedenken.

Wieder anderen hilft es bei der Bewältigung des Erlebten. Auch wenn es die Narbe nicht heilen kann, hilft es ihnen, einen Umgang mit ihrem Schmerz zu finden.

Für manche sind es auch alle Gründe zusammen. Doch unabhängig davon, was uns genau antreibt, ob Wut, Verantwortung, Bewältigung oder alles drei, eines haben wir gemeinsam:

Wir haben uns dem nicht gebeugt – wir sind nicht in die Unsichtbarkeit gegangen.

Wir sind die Radikale Vielfalt an sich; das Schöne, das Andere, das Sichtbare, das Mögliche.

Aber wie sind wir, wir Newroz und Naomi, das geworden?

Newroz

Meine ersten Erfahrungen mit Rassismus in Deutschland begannen in dem Moment, als ich hier ankam. Ich war sehr jung, als ich hier ankam. Mit zwölf Jahren blickte ich bereits auf eine persönliche Fluchtgeschichte zurück. Von woanders bin ich losgegangen, um hier anzukommen und zu bleiben. Letzteres war lange Zeit unklar. Vieles, was nach meiner Ankunft passierte, geschah anders als ursprünglich erhofft. Es folgten Jahre der Ausweglosigkeit, Jahre der Ohnmacht und Perspektivlosigkeit, Jahre der Traurigkeit und der Niedergeschlagenheit. Jahre, in denen das Leben schwer auf unseren Schultern lastete. Ganze neun Jahre lang war mein Leben und das meiner Familie von dieser Last durchzogen gewesen. Es gab keine Klarheit, keine Gewissheit, keine Sicherheit. Wir waren nie sicher, ob wir hier auch wirklich bleiben durften. Wir lebten in Angst. Es war ein Leben auf gepackten Koffern. Es war ein ungerechtes, ein würdeloses Leben. Wir lebten nicht unser Leben, sondern das, was der deutsche Staat für uns auserkoren hatte. Wir lebten ein fremdbestimmtes Leben. Dieses Unrecht der Isolation, der Diskriminierung und des Rassismus, der allesamt die Behörden und die Institutionen hierzulande prägt, haben mir meine Jugend geklaut. Eine Kette der Verbote und Verordnungen bestimmte, wie wir zu leben hätten, oder, eigentlich besser ausgedrückt, wie wir nicht leben durften. Entrechtung, Residenzpflicht,  Ausbildungsverbot, Arbeitsverbot, schlaflose Nächte, Nachtwachen von solidarischen Menschen. Lässt sich Unrecht mit einer einfachen Aufzählung ausdrücken? Lassen sich die geraubten Jahre irgendwie ausgleichen? Wie sähe Gerechtigkeit hierfür aus? Ist Gerechtigkeit in diesem Land eine Realität?

Der Punkt der tiefsten Verzweiflung war die Abschiebung meiner Brüder und meines Onkels. Um 4:00 Uhr morgens klingelt plötzlich die Tür kurz. Es folgen Tritte dagegen. Ich wache auf, laufe zur Tür, öffne sie und sehe die Polizei. Ein Schock geht durch meinen Körper. Ich erstarre, bleibe regungslos. Nicht so die Beamt:innen. Sie stürmen rein. Viele, sehr viele Polizist:innen stürmen im Morgengrauen unser Haus. Sie sind vor dem Haus, hinter dem Haus, im Haus, sie sind in meinem Zuhause. Sie sind überall. Sie gehen in alle Zimmer, durchleuchten alle Ecken. Ich höre Schreie. Meiner Mutter wird angeordnet, sie dürfe ihr Zimmer nicht verlassen. Ihre eigenen Kinder darf sie nicht sehen, die sie ihr just in diesem Moment wegnehmen. Meine zwei Brüder werden vom Staat aus unserer Mitte entrissen. Eine Abschiebung, die nicht einmal einen Abschied kennt. Ich frage noch einmal: wie sähe Gerechtigkeit in diesem Land für diejenigen aus, die rechtlos ein fremdbestimmtes Leben fristen müssen? 

Wir kamen als Schutzsuchende in dieses Land – und fanden uns in einem menschenverachtenden System wieder. Der Schutz, der existiert hier wenn überhaupt auf dem Papier und oftmals nicht einmal das. In diesen neun Jahren habe ich aber auch gelernt, wie Verzweiflung nicht mehr die Oberhand gewinnen kann. In meiner Wut darüber, dass ich kein normales Leben haben konnte, fand ich einen Ausweg aus der Hilflosigkeit und Regungslosigkeit.

Es konnte so nicht weiter gehen. Es durfte so nicht weitergehen. Also habe ich gelernt. Ich habe gelernt meine Geschichte zu erzählen, sie zu teilen und andere daran teilhaben zu lassen. Ich lernte, ich bin nicht die Einzige, ich lernte, ich hatte kein persönliches Problem, sondern ein Problem mit dem strukturellen Rassismus. Nicht ich war das Problem, sondern dieser rassistische Normalzustand. Ich lernte andere mit der gleichen Geschichte kennen und wir begannen, unsere Wut zu organisieren.

 Es ist die Geschichte des Nicht-Aufgebens, des Selbstbehauptens und des Veränderns. Und ich habe gelernt, was bedingungslose Solidarität ist. In Räume zu gehen die nicht meine waren, sich mit Menschen zu organisieren, die ähnliche Schicksale haben. Netzwerke schaffen, Treffen abhalten, gegenseitiges Zuhören, voneinander lernen, gemeinsam Weinen und Lachen, zusammen Streiten und Politik machen. All das wurde durch meine Wut möglich.

Naomi

„Sie müssen gesehen, gelernt und gelehrt werden. Say. Their. Names.“

Seit Jahrzehnten ringen Betroffene rechter Gewalt um Worte – um Worte, die umfassen, was sich nur schwer in Worte fassen lässt. Nicht selten fühlt man sich dabei kraftlos. Man fühlt sich müde bei diesem Ringen. Und nicht selten kann diese Müdigkeit einen verstummen lassen.

Ja, dieser Kampf um Sichtbarkeit, um Veränderung – in dunklen Momenten, in denen wir erneut mit Diskriminierung, mit Entwürdigung und sogar mit Anschlägen konfrontiert sind – lässt er Zweifel aufkommen. Zweifel, ob dieser Kampf es überhaupt wert ist.

Diese Dämonen in Form von Zweifeln, Müdigkeit,  Angst und Entwürdigung – sie nagen an einem, sie zerfressen einen von Innen und lassen einen gebrochen durch die Welt gehen.

Ich sage dies auch, weil ich das in meiner eigenen Familie gesehen habe.

Ein Teil meiner Familie hoffte, diesen Dämonen Einhalt gebieten zu können, indem Sie den erlebten Horror der Shoah wegsperrten, indem sie die Erinnerungen wegsperrten – wie eine Kiste, die man versucht in den Tiefen des Meeres zu versenken.

Ein anderer Teil hingegen schwor sich, nie wieder einen Fuß auf deutschen Boden zu setzen, in der Hoffnung, dass die Geister des Erlebten von ihnen ablassen würden. Das Schweigen um das Erlebte, das Ausweichen – es nährte den Boden für meine eigene Zerrissenheit.

Auch ich verließ Deutschland in der Hoffnung, meine eigenen Geister hinter mir zu lassen.

Meine eigenen Geister waren die Beklommenheit, die sich aus internalisiertem Antisemitismus, aus Verantwortung und aus der Suche nach meinem Platz in der Welt speisten. Es wurde schließlich unerträglich und ich wollte diese Last nicht mehr auf meinen Schultern tragen.

Diese Last. Witze über Juden und Jüdinnen, die oft mit deren – mit meinem – Tod als Pointe endeten. Meine Mitschülerin, die meinte, dass 6 Millionen tote Juden eine unglaubwürdige Zahl und bestimmt übertrieben sei.

Mit jedem einzelnen dieser Momente, mit jeder einzelnen dieser Erfahrungen, distanzierte ich mich innerlich weiter und weiter. Dies führte zu dem Versuch, einen Neuanfang anderswo zu finden.

Ich finde im Deutschen nicht die Worte, die meinen inneren Konflikt wiederspiegeln.

I wanted to blossom and not to grow thorns.

Hanau und die Folgen

In Hanau beschäftigt uns von Anfang an, wie wir aus den Erfahrungen eures Kampfes und auch aus unseren eigenen Erfahrungen lernen können, um den Betroffenen des rassistischen Terroranschlags in Hanau vom 19.Februar 2020 besser beizustehen.

Als wir keine 48 Stunden nach den rassistischen Morden zum ersten Mal auf der Strasse laut die Namen der Ermordeten gesagt haben, da haben wir auch die Namen anderer Orte genannt. Wir haben an die NSU-Morde, an Mölln, an Kassel, und an Halle und an so viele weitere Orte erinnert. Wir taten es, weil Hanau kein Einzelfall war, weil es eine Kontinuität gibt.

Hanau, der 19. Februar 2020, 9 junge Menschen, 9 Leben, 9 Geschichten, 9 Morde  innerhalb von wenigen Minuten an zwei Tatorten. 9 Familien wurden zerstört. Kinder,  Mütter, Väter,  Geschwister, Freunde und Freundinnen wurden nicht geschützt und sind seitdem schwerst traumatisiert. Angst, Schutzlosigkeit, Trauer, Erschütterung und Wut waren überall in der Stadt zu spüren. Es gab viel Anteilnahme und Solidarität. Dank der Erfahrungen aus den Kämpfen und der Kontinuitäten des Erinnern durch die Betroffenen und Initiativen, allen voran durch das Tribunal NSU Komplex auflösen, wussten wir relativ schnell, wie wichtig es ist, die Namen zu nennen. Es darf keinen Raum für die Täter geben! Es braucht einen Raum für die Opfer! Die Perspektive der Betroffenen gehört in das Zentrum der Aufmerksamkeit und auch der Politik. Wir erinnern. Jeden Tag erinnern wir. Bis heute: SEDAT GÖKHAN SAID NESAR MERCEDES VILI HAMZA FERHAT KALOYAN UND FATIH.

Die Namen und Geschichten der Betroffen waren überall. Plötzlich entstand das Gefühl, dass Hanau überall sei. Und dennoch fragte ich mich Monate danach, wieso waren tausende Menschen nach dem Anschlag auf der Strasse und nicht mehr? Warum Tausende, aber nicht Hunderttausende? Waren 9 Morde immer noch nicht genug, um Konsequenzen zu ziehen? Waren es wirklich alle, die Mitgefühl und Betroffenheit verspürten? Sicher, für die Mehrheit der Gesellschaft war das, was passierte, ein Schock. Und dennoch bin ich mir sicher, es wäre anders verlaufen, wenn sich durch solch einen Anschlag die Mehrheit gemeint und bedroht gefühlt hätte.

14 Monate. Jeder Tag war ein Kampf, mit sich selbst und mit der Welt. Wir wissen, dass niemand aufgeben darf! Es muss weiter für Sichtbarkeit und Druck gekämpft werden. Das Versagen muss aufgedeckt werden! Oder war es gar kein Versagen,  sondern die Tradition der hessischen Sicherheitsapparate rechte Morde, Netzwerke nicht aufdecken zu wollen oder gar zu decken.

Es sind die Betroffen selbst, die recherchieren. Es sind die Betroffenen selbst, die zusammen mit einem bundesweiten Netzwerk an Personen, das sich von Anfang an in der Initiative 19. Februar zusammenfand, unentwegt Öffentlichkeitsarbeit betreiben, damit Aufklärung nicht mehr eine Forderung bleibt, sondern zu einer Tatsache wird. Und, leider, zur Wahrheit gehört auch, dass die Familien noch immer nicht so trauern können, wie es eigentlich sein sollte. Trauer ist ein Privileg, das ihnen nicht zugestanden, nicht ermöglicht wird. Weil zur Vorbedingung der Trauer als Prozess der Verarbeitung des Schmerzes auch Aufklärung, Wahrheit und Gerechtigkeit gehören. Sie sind in Hanau abwesend.

140qm gegen das Vergessen, wie wir unseren Laden in Hanau umschreiben, sind manchmal zu klein, für das was passierte. Zu klein für die Emotionen, für die Wut, die Trauer, die Politik der Selbstorganisierung, das gegenseitige Zuhören, Lachen, Weinen , Ideen entwickeln. Von Außen ist es nur ein Laden. Für manche von uns, die wir dort ständig sind, ist es ein Mahmal, für andere ein Prozessaal, ein Medium um die Forderungen der Angehörigen – Erinnerung- Aufklärung- Gerechtigkeit und Konsequezen – zu erkämpfen. Er ist aber auch, und das darf nicht vergessen werden, irgendwie auch ein Wohnzimmer, ein Ort des Gemeinsamen, in dem wir trotz all unserer Verschiedenartigkeit und Differenzen zueinander finden können, zumindest aber, uns gegenseitig anhören können. Denn Erinnern heißt, für Veränderung zu kämpfen.

Halle und die Folgen:

Der erste Knall. Es ist der 09. Oktober 2019 – oder der 10. Tishrei 5780 nach dem jüdischen Kalender. Es ist Yom Kippur, einer der höchsten jüdischen Feiertage. Ich und meine Freunde – wir sind raus aus der Großstadt und rein in die ostdeutsche Provinz.

Und es ist jener Knall, der mich aus meiner Müdigkeit gerissen hat. Yom Kippur – es geht um Einkehr, Selbstreflexion und ob wir weiterleben dürfen. An diesem Tag wird der Tradition nach unser Schicksal entschieden.

Dieser Knall. Ein Raunen geht durch die Reihen – Ist jemand umgefallen? Kommt er etwa von draußen? Ein weiterer Knall. Und noch einer. Und noch einer. Schmeißt etwa jemand Böller auf die Synagoge? Ratlosigkeit macht sich breit.

Es treten ein paar an den Tisch des Sicherheitsbeauftragten heran, auf dem sich der Monitor für die Außenkamera befindet.

Es geht alles so schnell und doch so langsam – wir sollen uns zügig in der Wohnung überhalb der Synagoge in Sicherheit bringen.

Wir sind hastig hoch – ich versank in meiner eigenen Welt, fernab von allem, und sah, wie Kleidungsstücke und Bettlaken zu einer Notfall-Leiter zusammen gebunden und Eingänge verbarrikadiert wurden. Nach außen hin waren wir alle erstaunlich ruhig und gefasst.

Ich stellte mir tatsächlich die Frage, ob ich die Situation für so kritisch erachtete, und selbst ein Handy nutzen würde, an diesem Tag der Einkehr, an dem wir traditionell keine Technologie benutzen – ich entschied mich dagegen.

Ich entschied mich dagegen.

Ich. entschied. mich. dagegen. – wie in aller Welt hab ich nicht verstanden, in welcher Gefahr wir uns befanden?

Es gab die ersten Spekulationen und Gerüchte darüber, was passiert war. Wir suchten Halt und versuchten der Angst, die in uns aufstieg, Einhalt zu gebieten. Wir sangen aus den Tiefen unserer Lungen unsere Gebete und wir tanzten gegen das an, was wir zu diesem Zeitpunkt schon als einen antisemitischen Vorfall benennen konnten.

Während des Gebets sah ich durch das bunte Glas der Fenster ein Flackern des Blaulichts der Polizei und der Feuerwehr von außen.

Ich konnte mir nicht vorstellen, welches Ausmaß dieses Ereignis hatte und was uns draußen erwarten würde.

Der Moment, in dem für mich klar wurde, dass jemand vor den Toren der Synagoge ihr Leben verlor;

Dieser Moment  –  er war ein Stich ins Herz. Es war zu unwirklich, zu schmerzhaft.

Ich weiß nicht mehr genau, wie es dazu kam, aber auf dem Weg ins Krankenhaus begannen wir „Am Israel Chai“, „das Volk Israel lebt“, zu singen.

Es war ein „Ja“ zum Leben. Wohl das erste bewusste in einer Reihe von den vielen, die diesem Anschlag folgen sollten.

Ich möchte Euch zu dem ersten Freitagabend nach dem Anschlag mitnehmen. Da war dieser Moment, der mir bis heute die Welt bedeutet. In die Gesichter zu schauen derer – unserer Familien, unserer Freund*innen – die wir in Berlin zurückgelassen hatten und die wir jetzt zum ersten Mal wiedersahen.

Dieser Tag in Halle – er sollte doch nur ein Ausflug sein. Niemand hätte sich ausmalen können, dass an diesem Tag Jana Lange und Kevin Schwarze ihr Leben verlieren würden und 70 weitere Menschen ihres um ein Haar verloren hätten.

Und ich war eine von ihnen. Diese tiefe Dankbarkeit, am Leben zu sein.

Aber mit dieser Dankbarkeit begann ich langsam zu verstehen, was in mir zerbrach. Es war ein allmählicher Prozess der Erkenntnis.

Ich traute meiner Wahrnehmung nicht mehr. Dieses Ereignis, dieser Anschlag nahm mir das. Die Frage, wie ich nicht in der Lage sein konnte, die Gefahr zu erkennen, in der wir uns befanden, bereitete mir schlaflose Nächte.

Immerhin hatte ich doch einen Abschluss in Terrorismus-Bekämpfung. Völliger Blödsinn. Und wie konnte ich nicht in der Lage sein, mich nicht davon zu befreien? Ich, die ausgebildete Therapeutin? Ich fühlte mich gefangen.

Ich fühlte mich gefangen und konnte es nicht aussprechen. Der Schmerz saß zu tief. Ich war zu traumatisiert und meine Community hatte mit ihrer Aufarbeitung des Geschehenen zu kämpfen.

Monate sind vergangen, in denen ich, in denen wir, versuchten, zurück zu finden in den Alltag. Und dann kam Hanau. Dieser unscheinbare Ort – er wurde auf einmal Schauplatz eines rassistischen Anschlags.

Der 19. Februar 2020 – er hat mich erschüttert und wütend zurückgelassen. Es wurden dadurch Erinnerungen an den 9. Oktober in Halle wach.

Dieser Schmerz trieb uns an, Verbündete zu suchen – über die Grenzen der eigenen Community, des eigenen Umfelds und sogar der eigenen Stadt hinaus. Die Parallelen zwischen diesen Anschlägen und anderen rechten Morden, wie aber auch zwischen unseren Erfahrungen, bildete das Fundament für unsere Zusammenarbeit auf eine bessere, inklusivere und gerechtere Zukunft hin. Dieses Ziel vor Augen hilft uns, Gemeinsamkeiten zu finden und uns in unseren Differenzen zu schätzen. Menschen, die ansonsten wahrscheinlich so nie zusammengekommen wären, begegnen sich in ihren Unterschieden. Und nicht nur das: sie machen sich füreinander stark und setzen sich füreinander ein.

                Wir, Wir sind die Radikale Vielfalt an sich; das Schöne, das Andere, das Sichtbare, das Mögliche.

                So, so sind wir das geworden.

Ein wichtiger Teil davon seid Ihr, die Familie Arslan, die ihr euch unermüdlich für Aufklärung und Erinnerung eingesetzt habt und bis heute immer noch dafür einsetzt. Euer heldenhaften Einsatz – er dient als Beispiel für andere Betroffene rechter Gewalt.

Und so stehen wir, Naomi und ich, heute hier. Zwei Frauen aus ganz unterschiedlichen Communities, mit ganz eigenen Geschichten, die heute Seite an Seite stehen. Das Absurde ist, dass wir durch die Anschläge von Halle und Hanau zusammengebracht wurden.

Danke Familie Arslan, Danke an den Freundeskreis. Danke das wir ein Teil des heutigen Gedenkens sein durften.

Vielen Dank